Sie haben als Projektmanager wenig Freizeit. Genießen Sie die eigentlich? Wenn nein, schreiben Sie doch Ihre Grabrede!
Viele Projektmanager klagen über eine ungesunde Work-Life-Balance. Zu Recht, denn auch bei einem effizienten Projektmanagement erfordert das Projekt mindestens beim Start, vor Teilabnahmen, in Krisen und beim Abschluss enormen Zeit- und Energieaufwand. Mit Work-Life-Balance ist allerdings nur das Verhältnis zwischen Beruf und Freizeit gemeint.
Wie sieht es aber eigentlich mit der Qualität und Energiebilanz in der Freizeit aus? Im Durchschnitt über alle Projektphasen kommen nur die wenigsten Projektmanager in Deutschland, Österreich und der Schweiz über eine 50 Stunden Woche hinaus. Was passiert eigentlich mit den restlichen 118 Stunden pro Woche? Ein Teil davon (vielleicht im Durchschnitt so 5 Stunden?) geht für das Pendeln zum Projekt drauf und ein Teil für das Schlafen (idealerweise 8 Stunden pro Nacht, sagen wir mal inkl. Morgen- und Abendtoilette 60 Stunden pro Woche). Bleiben also noch 53 Stunden übrig. Gut, sagen wir noch, dass die Mittagspause unter der Woche der reinen Nahrungsaufnahme dient (was aus meiner Sicht auch nicht unbedingt stimmen muss, aber sind wir mal nicht kleinlich) und ziehen nochmal 5 Stunden ab. Dann bleiben immer noch 48 STUNDEN FREIZEIT PRO WOCHE übrig!
Was tun wir eigentlich in dieser Zeit? Ich habe das mit einigen meiner Klienten detailliert ermittelt. Es ist erschreckend, wieviel Zeit wir mit Dingen verbringen, die uns weder entspannen noch stärken noch uns oder unsere Lieben glücklich machen.
Top-Zeitfresser sind derzeit Chats in denen mit sehr vielen entfernt Bekannten sehr viel Unwichtiges kommuniziert und vor allem geteilt wird. Das Phänomen bzw. die Sucht zieht sich inzwischen quer durch alle Altersklassen. Es gibt kaum noch Menschen die Ihr Smartphone nicht mindestens alle paar Minuten in der Hand haben. Mit welchem Nutzen eigentlich?
Top zwei der Zeitfresser sind Filme und Videos. Das interessante daran ist, dass sich Menschen oft Filme ansehen, die sie überhaupt nicht glücklich machen. Warum eigentlich? Bei den gestreamten Videos kommt hinzu, dass wir ständig weitere Videos angeboten bekommen, die zu unserem bisherigen Konsumverhalten und unserer einmal gezeigten Denkrichtung passen. Hier besteht also die große Gefahr der Manipulation und der Radikalisierung unserer Haltung, und das noch dazu in unserer wertvollen Freizeit! Im traditionellen Fernsehen hingegen werden wir mit Werbepausen bombardiert, die auch nicht wirklich in die Kategorie "Qualitätszeit" passen.
Top drei ist das Surfen im Internet um Informationen über Dinge einzuholen die für uns bei näherer Betrachtung oft nicht wirklich wichtig sind. Um es in Projektsprache auszudrücken, die Surferei hat meistens einen deutlich negativen Business Case. Oder ist unsere Zeit wirklich so wenig wert, dass es sich lohnt, für ein minimal besseres Produkt und ein paar Euro Preisersparnis stundenlang Testberichte und Vergleichsportale abzuklappern?
Auf Platz vier kommen die, zumindest in ihrer Intensivität bedenkenswerten, Nachrichten, Newsticker und Zeitungen. Ja, es ist wichtig, gut informiert zu sein. Aber welche negativen Auswirkungen auf unsere Leben hätte es wirklich, wenn wir hier und da mal Mut zur Lücke hätten, also nicht jeden Tag alle Themengebiete abgrasen?
Platz fünf auf der Skala der Zeitverschwendung nimmt die Nahrungsaufnahme ein. Jetzt denken Sie wahrscheinlich, dass der Autor wohl von Luft und Liebe lebt. Nein, das meine ich nicht. Ich kritisiere die Nahrungsaufnahme in der Form des "schnell etwas in den Mund schieben um den Hunger zu stillen". Ich meine explizit nicht ein gemütliches Essen mit einem netten Gespräch mit Familie, Freunden oder Kollegen.
Wenn ich dann meine Klienten frage, wieviel Zeit für die eigene Entspannung und Fitness sowie als Qualitätszeit mit Familie und Freunden übrig bleibt, kommen meist weniger als 5 Stunden pro Woche heraus. Das sind gerade einmal 3% unserer Lebenszeit und 10% unserer Freizeit pro Woche! Wenn ich dann aber noch weiter hinterfrage, was sie denn in dieser Zeit genau tun, dann höre ich zum Beispiel, dass sie gemeinsam mit ihren Kindern oder ihrem Partner einen Film ansehen. Das ist dann der Zeitpunkt an dem ich unseren Berufsstand verteufle!
Sind wir als gestandene Projektmanager denn wirklich nicht in der Lage, unsere Freizeit so zu gestalten, dass wir und unsere Lieben dabei glücklich sind und neue Kraft tanken? Ich denke, dass wir schon in der Lage sind, wir müssen uns und unsere Freizeit nur genauso ernst nehmen wie unser Projekt.
Lassen Sie uns daran arbeiten, jede Woche wenigstens 2% unserer Zeit (das sind bereits 3 Stunden!) etwas für unsere eigene körperliche, geistige und seelische Fitness zu tun. Etwas Sport, ein Spaziergang in der Natur, mit geschlossenen!!! Augen Musik hören oder eine kleine Meditation entspannen und beleben uns gleichermaßen.
Und lassen Sie uns darum kämpfen, jede Woche wenigstens 3% unserer Zeit (das sind 5 Stunden!) als Qualitätszeit mit den Menschen zu verbringen die wir lieben. Das kann Kleinkunst oder ein gutes Essen bei Kerzenschein mit dem Partner sein oder ein Abend pro Woche an dem sich unsere Kinder aussuchen dürfen, was wir mit ihnen machen. Sie werden sehen, schon zwei oder drei Stunden pro Woche echte Qualitätszeit mit Ihren Kindern wirken Wunder. Wunder in Ihrer Beziehung, Wunder über was Sie plötzlich miteinander reden und Wunder wie glücklich sich alle fühlen.
Ich selbst praktiziere seit über 20 Jahren unseren „Männerabend“ mit meinen Söhnen. Als ich einen Sohn hatte, sind wir jede Woche an einem Abend losgezogen und haben das gemacht was er sich wünschte. Das war mal wandern, mal Fahrrad fahren, mal spielen, mal in sein Lieblings-"Restaurant" gehen etc. Als ich dann zwei Söhne hatte, haben wir abgewechselt. Eine Woche mit dem einen, die nächste Woche mit dem anderen und die dritte Woche zu dritt. Ich habe diese Abende in vollen Zügen genossen und immer auch genutzt, um zu fragen, was meinen Kindern so durch den Kopf geht und ob sie irgendwelche Fragen haben, die sie sonst, im „Tagesgeschäft“, nicht stellen würden. Das hat uns über viele Jahre eng zusammengeschweißt und wir kamen immer bestens gelaunt von unserem Männerabend nach Hause. Und selbst heute noch, mit zwei erwachsenen Söhnen, steht hin und wieder Männerabend auf dem Plan. Apropos Plan, es war für uns Kult, dass mein Sohn am Sonntagabend meinen Kalender aus meiner Tasche holte und wir unseren Männerabend-Termin für die kommende Woche geplant haben. Und ich habe mich zu 99% an unsere Termine gehalten, denn die waren mir mindestens genauso wichtig wie jeder Businesstermin, bei denen ich ja auch alles daransetze sie wahrzunehmen! Lieber habe ich mich dann nochmals, gestärkt und glücklich, an den PC gesetzt wenn meine Kinder im Bett waren.
Vielleicht habe ich Sie jetzt etwas nachdenklich gemacht und Sie überlegen sich, wie Sie sich selbst ähnliche Qualitätszeiten im Gestrüpp Ihrer Gewohnheiten freilegen könnten. Mir selbst hatte damals, vor über 20 Jahren und im Alter von 30 Jahren, geholfen, meine eigene Grabrede zu schreiben. Man stellt sich dabei vor, dass man seine eigene Beerdigung von oben aus der Vogelperspektive sieht. Die wichtigsten Menschen gehen nacheinander an das Rednerpult und sprechen ein paar Worte, wie sie mich und die Zeit mit mir erlebt haben. Die Übung besteht dann darin, aufzuschreiben, was ich mir wünsche, was diese Menschen über mich sagen wenn sie völlig ehrlich sind. Ich hatte mir damals gewünscht, dass mein Sohn sagt, dass ich immer für ihn da war wenn es wirklich wichtig war und dass wir einen Abend die Woche so richtig schöne Zeit nur für uns alleine hatten.
Wenn Sie diese Übung auch machen wollen, empfehle ich Ihnen zwei Stunden Ungestörtheit, denn da könnte die eine oder andere Erkenntnis reifen und vielleicht auch Tränen der Klarheit fließen. Noch intensiver können Sie das in Form einer geführten leichten Trance erleben und erarbeiten.
Herzlichst,
Ihr Jürgen Gleißner